Die goldenen Risse unserer Trauer

Wenn ein geliebter Mensch stirbt, zerbricht etwas in uns. Birst in abertausende Stücke, große und kleine. Ein Meer aus Scherben über den Fußboden zerstreut. So habe ich früher über Trauer gedacht. Trauer ist schwarz, dunkel, schwer – eindimensional. Da gab es keinen Platz für Schattierungen oder gar Grautöne. Trauer ist traurig, eine ernste Angelegenheit – ein Tabu-Thema!

Doch dann fiel ein Sonnenstrahl durch das Fenster. Und plötzlich passierte etwas. Kannst Du sehen, wie sich das Licht in den Scherben bricht? Wie er Farben durch den Raum tanzen lässt? Die Reflektion der Scherben malen die Bilder ungelebter Geschichten – mit Liebe illustriert.

Ein bunter Scherbenhaufen

Meine Trauer ist so facettenreich, wie ein bunter Scherbenhaufen. So bunt und facettenreich, wie die unzähligen Bilder eines Kaleidoskops. Wie Scherben, die sich jeden Tag zu einem neuen Bild zusammensetzen. Ein Bild, das nie wieder so wird, wie es einmal war. Eine Komposition – manchmal dunkel, unstimmig und konfus. Und im nächsten Moment hell, harmonisch und leicht.

Meine Trauer ist bunt wie ein Kaleidoskop. Für all die Gefühle in mir. Die alle ihre Berechtigung haben und einen Raum verdienen. In jeder erdenklichen Konstellation. Es gibt nichts Heilsameres als sich zu erlauben all diese Gefühle wirklich zu fühlen! Jeder von uns trauert auf seine eigene Weise, mit individuellen Emotionen und Gedanken. Diese Vielfalt ist ein unglaublicher Reichtum, der uns formen und wachsen lassen kann.

Und irgendwann fing ich an die facettenreichen bunten Scherben zu einem neuen persönlichen Mosaik zusammenzusetzen. Der Versuchen Lücken zu füllen, wo Verluste bleiben. Doch kann man diese Lücken überhaupt füllen? Kann es sich jemals wieder ganz anfühlen? Irgendwie wirkte das fast wie Verrat auf mich.

Kintsugi​ - eine japanische Kunstform

Doch dann bin ich auf eine interessante Kunstform in Japan gestoßen: Kintsugi. Kintsugi ist eine traditionelle japanische Reparaturtechnik für zerbrochenes Porzellan. Dabei werden die Bruchstellen mit goldenem Kleber gefüllt. Dieser Prozess betont nicht nur die Vergangenheit des Objekts, sondern verleiht ihm auch eine einzigartige Schönheit. Steht symbolisch für die Wertschätzung von Wunden und Brüchen.

Kintsugi zeigt uns also, dass das Zerbrochene nicht notwendigerweise verloren ist. Im Gegenteil, es erzählt eine Geschichte. So wie jedes zersprungene Stück durch die goldenen Linien wieder zusammengefügt wird, so können auch wir in der Trauer die Bruchstücke unserer Herzen mit kostbaren Erinnerungen und Liebe reparieren.

Der Verlust eines geliebten Menschen ist wie ein Riss in unserer Seele. Doch dieser Riss birgt die Chance, die Einzigartigkeit und Schönheit der Liebe, die wir geteilt haben, auf eine besondere Weise zu betonen. Ähnlich wie das Gold in Kintsugi den Bruchstellen eine neue Bedeutung verleiht, können wir in unserer Trauer eine tiefe Verbundenheit zu dem Menschen finden, den wir verloren haben.